Hier die Predigt vom 9. November aus der Kirche in Edingen von Pfr. Dr. Armin Kistenbrügge. Wegen technischen Problemen hat die Aufnahme nicht funktioniert, deswegen hier der Predigttext:
Predigt über Lk 6,27-37: Feindesliebe?
Liebe Edinger (Greifensteiner) Geschwister!
Wir sollen ja wieder kriegstüchtig werden. Was für ein Wort. Wenn ich mir das auf der Zunge zergehen lasse, fühlt sich mein Mund metallisch an. Woanders nennen sie die zugehörige Behörde gleich Kriegsministerium. Was heißt das eigentlich, kriegstüchtig werden? Sollen Kinder wieder härter werden, flinker, zäher? Was würdet ihr dazu sagen, wenn auf der Gesamtschule in Ehringshausen „Wehrertüchtigung“ neben dem Sportunterricht eingeführt würde? Robben, ballern und grundlos angebrüllt werden und dann zurückbrüllen: „Jawoll, Herr Kaleu!“ Ich habe das als Austauschschüler in England 1980 erlebt, wie sich das anfühlt, wenn donnerstags in der Mensa einige Lehrer in Flecktarn und Military-Pullover in der Mensa in der Schlange standen und die Schüler Uniform trugen. Da war das irgendwie selbstverständlich. Aber ich habe mich dabei nicht wohl gefühlt damals.
Aber so ganz von der Hand zu weisen ist der Gedanke von Boris Pistorius ja nicht. Wenn die Welt so ist, wie sie im Moment nun mal ist, und wenn du die Verantwortung hast, jemanden, der sich selbst nicht wehren kann, zu beschützen und notfalls zu verteidigen, dann kannst du nicht sagen: Lasst uns verhandeln, bis es uns zu den Ohren rauskommt, wenn du kein Gegenüber mehr hast, der überhaupt zuhören will. Wenn jemand sich auf dich verlässt, dass du ihn schützt, kannst du nicht sagen: Lasst euch vergewaltigen, totschießen, kaputtbomben, ausplündern und versklaven, Krieg ist keine Lösung, selig sind die Friedfertigen! Schön. Aber auch tot. Wenn Gott dir jemand unter deinen Schutz gestellt hat, lässt du den nicht im Stich! Punkt. Unter katastrophalen Bedingungen lässt sich nur paradiesisch handeln, wenn du selber den Preis zu zahlen bereit bist. Und nicht andere.
Ich behandle eine Variation dieser Frage im Ethikunterricht mit jungen Polizisten. Da geht’s um ähnliches, wenn es um das Gewaltmonopol des Staates geht: In dieser Welt müssen die geschützt werden, die sich nicht selber schützen können. Sonst herrscht das Recht des Stärkeren. Dazu müssen Polizisten auch gewaltfähig sein und das trainieren, selbstverständlich. Aber sie dürfen darüber nicht gewaltaffin werden. Das heißt: Erst schießen, dann fragen. Gewalt anwenden, einfach weil man‘s kann und eine Abkürzung des Problems ist. Barak Obama hat mal zur Macht des amerikanischen Militärs als große Versuchung gesagt: Wenn du einen guten Hammer hast, dann wird jedes Problem schnell zu einem Nagel. Das heißt für die beschworene Kriegstüchtigkeit doch: Wenn du anfängst, wieder in Kategorien der Kriegslogik zu denken, wenn du wieder überall Feinde siehst, wenn’s nur noch Siege oder Niederlagen gibt, Vergeltung und Verteidigung, dann bestimmt die Gewalt und der Hass dein Denken. Der Krieg hat dann schon begonnen, die Agende zu bestimmen. Dir das Handeln zu diktieren. So wie der Hass der AfD unseren Diskurs bestimmt und die verzweifelten politischen Akteure vor sich hertreibt. Wenn einem nichts übrigbleibt, als sich verteidigen zu müssen und das dann auch üben muss, warum um Gottes Willen lernen wir nicht genauso, Frieden zu schließen und zu bewahren? Ihr kennt das Wort von Erich Kästner aus seinem „Märchen von der Vernunft“ von 1948: Wenn dieser furchtbare zweite Weltkrieg die Welt eine Billion Dollar gekostet hat, warum in aller Welt sollte man für den Frieden nicht das gleiche Geld ausgeben und die gleiche Anstrengung in ihn investieren? Warum gibt’s in der Schule keine Friedenskunde? Mit Übungen zum Streit schlichten und zur Deeskalation, zur Ausarbeitung von vertrauensbildenden Maßnahmen und Klausuren in Kompromissfindung? In einen heißen Krieg schlittern ist hundertmal leichter als hinterher Frieden zu schließen. Das kann man sich aus schein-sicherer Entfernung in Israel und Gaza ansehen. Was Hundert Jahre alter Hass mit Ländern macht. Man kann den Krieg vielleicht gewinnen. Wenn man hinterher nicht den Frieden gewinnt, nützt einem das auf lange Sicht wo gut wie gar nichts. Dann hast du dich bloß zu Tode gesiegt. Wie soll es in Israel und Palästina denn weitergehen? Wenn man an dem Punkt ist, wo man sich nicht bis in alle Ewigkeit weiter umbringen kann? Selbst wenn man einen Krieg gewinnt, kann man den Frieden verlieren, weil der mehr ist als das, was der Krieg am Ende an Trümmern noch übriggelassen hat.
Die Frage, die wir uns heute womöglich ganz dringend stellen müssen, heißt: Wie überwindet man den Hass? Diese Krankheit des Herzens, die furchtbar ansteckend ist. Willst du sie alle töten, deine Feinde? Glaubst du, die Welt wird gut, wenn die Bösen geschlachtet werden? Dass dann das Schlachten aufhört? Und wer sagt dir, dass du in den Augen derer, die du hasst, nicht du der fiese Feind bist? Und sie dort, jenseits der Grenze, Sachen über dich erzählen, die infame Lügen sind, um den Hass am Köcheln zu halten?
An der Stelle bin ich mit meinem Latein am Ende. Und genau da stoße ich auf das, was Jesus über die Feindesliebe gesagt hat. Dahinter steht eine vertrackte Frage: Kann man in Zeiten des Hasses noch lieben? Kann es ein wahres Leben mitten im falschen geben? Jeder wird dir sagen: Heb dir die Liebe für deine Familie auf, für deine Freunde, für deine Landsleute, und klapp das Visier runter, bau dir ne Wagenburg, igel dich ein und stopf dir die Ohren zu, weil du sowieso nur noch Propaganda hörst, glaub gar nichts mehr, vertrau niemandem. Merkt ihr, wie fake die Liebe ist, die du dir in Zeiten des Hasses in deinem Versteck aufgehoben hast? ‚Das ist die Liebe, die der Hass übriggelassen hat und dir als Beruhigungsmittel zugesteht.
Aber Feindesliebe in Zeiten des Hasses als einfache Lösung anzupreisen und das Fähnchen des Pazifismus zu schwenken, macht aus der Liebe auch ein ziemliches Zerrbild: Entweder sie wird so zu deiner Heldentat, die deine Feinde auf überraschende und ungewöhnliche Art „entwaffnet“. Das hat man mal von der Empfehlung gedacht, die Jesus seinen Leuten an der Stelle in der Bergpredigt mitgegeben hat: Wenn dich ein römischer Besatzungssoldat zwingt, seinen Krempel zu tragen, das durften die jederzeit, einen elenden jüdischen Untermenschen zur zeitweisen Zwangsarbeit heranzuziehen, dann geh mit ihm gleich noch die zweite Meile. Das war nämlich verboten, dafür kriegste als römischer Legionär Ärger, wenn du dein Recht zur Ausbeutung ausbeulst und übermäßig ausschlachtest. Ich glaube aber, diese Hinweise auf kleine Tricks der pazifistischen Guerilla-Taktik führen auf einen falschen Weg. Seine Feinde in die Knie zu lieben ist nicht das Ziel. Auch nicht, Friedfertigkeit als neue Heldentat zu verkaufen, die vielleicht ein paar Asketen gelingt, die nicht am Leben hängen. Die schaffen das vielleicht, in völliger Weltabgewandtheit und Teilnahmslosigkeit dem eigenen und fremdem Leid gegenüber alles hinzunehmen.
Die Liebe in der Feindesliebe kann sogar geradezu krankhaft werden: Wenn du anfängst, dich mit deinen Peinigern, die dich missbrauchen, zu identifizieren. Das kann missbrauchten Kindern passieren, die die Erwachsenen, die sie schlagen und vergewaltigen, anfangen, paradoxerweise zu lieben. Oder Geiseln, die monatelang gefangen gehalten werden und eine Beziehung zu ihren Entführern entwickeln. Das hat man erstmals bei Menschen beobachtet, die Anfang der 70er Jahre bei einer Geiselnahme in einer Bank in Schweden gefangen gehalten wurden. Man nannte dieses Verhalten deshalb das „Stockholm-Syndrom“, wenn ein Opfer zum Täter eine emotionale Beziehung entwickelt.
Leute, Feindesliebe ist kein ethisches Konzept. Sondern ein theologisches. Sie spricht nicht davon, wie du handeln sollst, sondern was Gott tut. Sie fragt dich: An welchen Gott glaubst du, und was für ein Lebensstil folgt daraus? Du begegnest der Feindesliebe, wenn du danach fragst, wie Gott handelt. In Zeiten des Hasses. Wie also verwandelt Gott den Hass in Liebe, wie macht er Versöhnung möglich, wo alle Brücken abgerissen sind?
Stellt euch eine Welt vor, in der das Misstrauen in jeder menschlichen Reaktion steckt. In der auch die edelsten Motive durchzogen sind vom heimlichen Wunsch, sich dadurch doch am Ende selber einen Vorteil zu verschaffen. In der es keine Gerechtigkeit gibt, weil immer einer den Kürzeren zieht und den Preis bezahlt und am Ende die Arschkarte hat. Wenn‘s dir gut geht, dann hat jemand anderes dafür den Preis bezahlt. Das ist eigentlich kein großes Problem, sich so eine Welt vorzustellen. Das ist unsere Welt. Eine Welt, die Gott nicht leugnet, die ihn aber schlicht nicht kennt, weil sie ihn immer nur benutzt. Und möchte, dass er ihr dient, als Helikopter-Gott und als Richter für die anderen, die Bösen, dessen Liebe denen gilt, die lieb sind und brav und alles richtig machen und die Bösen hasst und bestraft. In dieser Welt, wo Gott dein Diener sein soll, und du dich beschwerst, dass er nicht da ist, wenn man ihn mal braucht, in einer solchen Welt kannst du Gott nicht dienen. Du kannst Gott nicht Gott sein lassen, weil du selber auf seinem Platz sitzt, ob du willst oder nicht. Wenn du ihm begegnest, dann ist die Folge, dass du von deinem Thron runter musst. Du bist in dieser Welt immer nur sein Konkurrent. Das genau nennt die Bibel Sünde. Sünde ist im Grunde die Situation, dass die Welt mit Gott im Krieg liegt.
Und jetzt stell dir vor, Gott ist die Liebe selber. Und er kommt trotzdem. In diese Welt. Die ihn nicht lieben kann. Und Gott fängt in dieser Welt, wie sie ist, zu lieben an. Das normale Konzept von Liebe ist, dass man liebt, was einen zurückliebt. Das ist ein Geben und Nehmen. Du liebst, was liebenswert ist. Und nicht den, der dir in die Hand beißt, wenn du sie ihm reichst. Aber genau das ist, was Gott tut. Er setzt ein Kind in diese Welt. Pflanzt Liebe wie ein Bäumchen in die Wüste. Und dann fängt Jesus, der die Realität dieser Liebe Gottes ist, an, diese Feindesliebe zu leben. Er teilt sie verschwenderisch aus, als hätte er unendlich viel davon. Als würde die Lieben nicht aufhören und nie ausgehen. „Wer will nochmal, wer hat noch nicht?“ Du kannst sie dir nicht verdienen, du musst sie annehmen wie ein Geschenk. Zuerst kriegen die, die garantiert nichts zurückzahlen können, als würden sie von Gott einen Kredit mit der Aussicht, nichts davon wiederzusehen. Wer ihn bittet, kriegt was ab. Und am Schluss ging seine Praxis der Feindesliebe so weit, dass sie am Kreuz endete. Als sie ihn auf die Wange schlugen, hat er sich nicht gewehrt. Als sie ihm die Kleider vom Leib rissen, hätte er ihnen den Mantel dazugegeben, wenn er noch einen gehabt hätte. Als sie nach Rache schrien, für was auch immer, da sagte er: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Am Kreuz zeigt sich die Liebe, die Jesus die ganze Zeit gelebt hat, als das, was sie immer schon war: Feindesliebe. Sie ist nicht die äußerste Form der Liebe, sondern die innerste. Sie ist das Wesen der Liebe Gottes. Sie verwandelt den schlimmsten Hass in Versöhnung. Am Kreuz macht Gott aus seinen Feinden seine Freunde. Schreibt Paulus im Römerbrief: „Gott erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.“ (Röm 5,8) Also Feinde Gottes.
So einem Gott folgen wir nach! Und mit ihm haben wir die Gewähr, dass die Liebe über den Hass gesiegt hat. Am Ende bleibt die Liebe. Und du kannst so leben, dass das die Wahrheit ist: dass die Liebe schon gewonnen hat. Du kannst aus der Kraft leben, dass der Hass nicht mehr das letzte Wort hat und am Ende die Vergeltung bis in alle Ewigkeit übrigbleibt. Sondern die Versöhnung. Du darfst die Abkürzung nehmen. Der kürzeste Weg, den Hass zu überwinden, ist die Brücke, die Jesus gebaut hat. Und du kannst sie verschwenden, die Liebe. Du kannst sie schon jetzt üben und das Hassen lassen. Sogar mitten im Krieg.
Das ist nicht einfach eine emotionale Herausforderung. Das ist eine Entscheidung. Und du kannst diese Liebe sogar an die austeilen, die sie sich in deinen Augen nie und nimmer verdient haben. Die Kategorie Feind hat über dich keine Macht mehr. Vielleicht fängst du mal damit an, die Liebe Gottes in kleiner Münze unter die Leute zu bringen, auch unter die, die sie nicht verdienen: Durch einen Kompromiss, der deinem verhassten Gegner sein Gesicht lässt. Durchs Zuhören und ehrliche Nachfragen. Durch Vergebung, das kleine Osterfest des Neuanfangs, wo nichts mehr wieder gutzumachen ist. Durch zweite Meilen, die du gehst. Durch Vertrauenskredit. Auch dann, wenn du schon X mal enttäuscht worden bist. Das kannst du, ganz einfach, weil Gott das möglich gemacht hat. Glaubst du, dass die Liebe stärker ist als der Hass? Darauf läuft‘s hinaus. Amen.
(Kanzelsegen)