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Predigt

18.07.20 – Armin Kistenbrügge – Kraftquellen

Hier kommt der heutige Gottesdienst als Audio-Podcast und Text zum Thema „Markus 5,25-34: Die Frau, die mehr bekam als sie erhoffte“ aus der Predigtreihe „Kraftquellen des Glaubens für Ausgelaugte“

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Predigttext

Liebe Edinger (Greifensteiner) Geschwister!

Kennt ihr das: Wenn man beim Monopoly-Spielen gerade seine letzten Kröten zusammengekratzt hat, um die dicke Miete auf der Zielgeraden noch so gerade zu berappen, und dann kommst du mit dem nächsten Wurf kurz vor der Parkstraße aufs Ereignisfeld. Und ziehst. Auf der Karte steht lapidar: „Gehe zurück auf Los. Ziehe nicht 4000 Mark ein.“ Und du fängst von vorne an. Das ist, als würde einem der Stecker gezogen werden. Ihr wisst, was ich meine. Ich sehe es an euren Augen.

Oder im richtigen Leben: Wenn die Autoreparatur gerade bezahlt ist, dann geht die Waschmaschine kaputt. Oder wenn du die Wurzelbehandlung hinter dir hast, dann meldet sich das Magengeschwür. Aber dafür fehlt dir einfach die Kraft. Weil du dich müde gestrampelt hast beim Durchwurschteln durchs Leben. Also: Wenn deine Reserven an Nehmerqualitäten, Optimismus, Anpassungsbereitschaft und Galgenhumor aufgebraucht sind, woher kriegt man dann Kraft? Wo liegen die Kraftquellen, wenn du das Ende der Fahnenstange erreicht hast: die Kraftquellen des Glaubens, die Kraft Gottes?

Danach möchte ich mit euch in einer Predigtreihe suchen. Ich habe in den letzten Wochen den Eindruck gewonnen: Die können wir brauchen. In der nächsten Zeit. Wir hatten uns doch auf einen entspannten Sommer gefreut, und jetzt ziehen wir gerade wieder die „Gehe zurück auf Los“ – Karte, in Holland gehen die Inzidenz-Zahlen durch die Decke, in England wachen sie gerade aus dem EM-Kater wieder auf und ignorieren es einfach, dass sie ihre Impferfolge irgendwie beim Ansteckungs-Glücksspiel im Stadion und beim Public viewing verzockt haben. Und wir können die Uhr danach stellen, wann das auch wieder bei uns ankommt. Also: Jetzt müssen wir uns aufrappeln und wieder zusammenreißen. Ihr macht euch kein Bild davon, wieviel Lust ich dazu habe. Also ich brauche neue Kraft.

Als ich übers Kraft Tanken nachgedacht habe, bin ich auf die Szene mit der verzweifelten, aber beherzten Frau gestoßen. Die ihr gerade in der Schriftlesung gehört habt.

Ich stelle mir vor, wie elend die Situation der Frau wirklich war. Denn die konnte mit ihrem Leiden eigentlich nicht unter Leute. Nicht bloß, weil das unangenehm ist.Ihr müsst wissen, dass Blut in Israel ein ganz besonderer Saft war. Der einen unrein macht. Wer eine anfasst, die blutet, macht sich selber unrein. Das bedeutete für die Frau: Völlige Isolation.Ein Leben im Dauer-Lockdown. Ein Leben ohne Berührung, also auch ohne Gemeinschaft, ohne Gottesdienst zum Beispiel, seit 12 Jahren! Und das auch noch mit ständigem schlechtem Gewissen, weil sie in ihrem Zustand anscheinend auch nicht zu Gott kann. Weil, der ist doch die unfleckte Reinheit, und das passt nicht zusammen, blablabla. Und wenn doch, dann machst du dich nochmal extra schuldig. Das raubt einem die letzte Kraft.

Die Frau scheint Jesus jetzt nicht wirklich zu kennen, sie hat von ihm vielleicht so gehört wie von einem Heiler, der besondere Kraft hat. Und du probierst alles, wenn du an dem Punkt bist wie die Frau. Je geringer deine Abwehrkräfte sind, desto größer wird der Aberglaube. Das ist heute wahrscheinlich nicht anders, wenn man heute in der Apotheken-Umschau oder in der TV-Beilage der Tageszeitung neben Treppenliften von halbseidenen Heilungsanzeigen liest und so verzweifelt ist, dass man alles ausprobiert.

Die Frau macht jetzt was Unerhörtes. In mehrfacher Hinsicht. Sie schleicht sich von hinten an und denkt sich:„Ich mach mich so unsichtbar wie möglich, die Leute sollen mich am besten gar nicht bemerken. Ich fasse nur kurz das Hemd von dem Heiler an, das reicht schon, dann zapf ich was von seiner Kraft ab.“ Ein bisschen so vielleicht, wie man früher Benzin mit einem Schlauch aus einem Tank saugen konnte. (Vorsicht Kinder, bitte nicht nachmachen!)

Und Jesus: Der spürt offensichtlich, dass er Kraft – nicht verliert, sondern weitergibt. Hier ist sie scheinbar, die Kraft, nach der wir suchen: Die man einfach tanken kann. Die man einnehmen kann wie Medizin. Oder Doping, wie man‘s nimmt. Ich versteh das: Du bist erledigt, verzagt, kannst nicht mehr, und fängst an zu beten oder gehst zum Tanken in den Gottesdienst, und kriegst neue Kraft. Einfach so. Das ist fast wie Magie: Sich übernatürliche Kräfte zu „erschleichen“. Der Übergang zum Aberglauben ist manchmal kaum wahrnehmbar. Ist das eigentlich in Ordnung, das manchmal zu wollen, und wenn‘s heimlich ist? Also ich ertappe mich dabei selber. Vor allem, wenn ich selber nicht stabil bin, dass ich mich am liebsten bei Gott „anschleichen“ möchte und hoffe, einfach zu kriegen, was ich brauche. Und dann wieder in der Masse verschwinden zu können. Ich merke zum Beispiel, wie ich anfange, mit Gott zu handeln beim Beten, das ist auch ein bisschen so, wie sich von hinten Kraft zu erschleichen.

Aber worin besteht diese Kraft, die die Frau da sucht – und findet? Es ist die Berührung. Die nimmst du über die Haut auf. Aber sie geht unter die Haut. Das ist es. Wir Menschen brauchen das: Berührt zu werden. Dass dir was unter die Haut geht. Und du eine Gänsehaut kriegst. Dieses Abstand halten ist für Menschen, die zu Hause keinen haben, der sie mal in den Arm nimmt, kaum auszuhalten.

Hier ist eine der Kraftquellen zu finden, nach der ich suche.Und wenn Menschen bei uns im christlichen Glauben oder in unserer Kirchengemeinde wirklich nach Kraft suchen, aus welchen Motiven auch immer, dann geht es letztlich darum, berührt zu werden. In jedem Sinne: Emotional. Handgreiflich. Geistlich. Wie ist das bei uns? Gibt es bei uns nur ein paar belehrende Erklärungen, die schon ein bisschen angestaubt sind, und sonst nur den erhobenen Zeigefinger und ein paar Appelle, mitzuhelfen, die Welt zu retten? Aber keine Berührung, nichts Berührendes? Das wird womöglich die Frage sein, die wir uns beim Neustart nach Corona werden stellen müssen.

Und Jesus? Für den scheint das nicht schlimm zu sein. Der wertet die Motive und die Anschleichversuche, die du unternimmst, erstmal nicht ab. Der merkt die Sehnsucht. Das Bedürfnis. Den Hunger der Leute. Und der Hunger unterscheidet auch nicht zwischen schneller Junkfood-Sättigung und vollwertiger, nachhaltiger Gesundheitskost mit der richtigen Einstellung beim Zu-sich-nehmen. Jesus sagt gewissermaßen: „Kommt her zu mir alle.“

Aber dann merkt er irgendwas, eine Berührung vielleicht, und fragt: „Wer war das?“ Ich finde die Szene fast ein bisschen witzig, als würde Jesus sagen: (Schütteln) „Da hat mich einer gekitzelt!“ Seine Jünger gucken ihn auch ein bisschen ungläubig an: „Wie jetzt, du stehst im Zentrum einer Menschentraube, die Leute begrabschen dich, und du fragst: „Wer war das?“ Die Jünger haben offensichtlich keine Idee von der Kraft, die von Jesus ausgeht. Ist auch kein Wunder, denn das hier ist das einzige Wunder, das Jesus ohne zu wollen vollbringt.

„Wer war das?!“ Die Frage ist mir unangenehm. Weil sie aufdeckt. So wie ein Lehrer die Klasse fragt, wo einer die Tafel vollgeschmiert hat und sich der Delinquent melden soll. Oder noch schlimmer: Wenn man was geklaut hat. So muss sich die Frau fühlen: „Jetzt kommt alles raus.“ Kennt ihr dieses Gefühl, dass alles rauskommt, was ihr angestellt habt? Mich begleitet dieses Gefühl schon seit der Kindheit, vielleicht weil ich wirklich eine Menge Mist gemacht habe.

Ich habe mich beim Lesen der Geschichte gefragt, warum Jesus die Frau konfrontiert. Er hätte doch auch gnädig sein können, fünfe grade sein lassen und die Frau ziehen lassen. Aber dann ist es mir klar geworden, als ich die Reaktion der Frau verstanden habe.Auf die Frage „Wer was das?“ bricht sie zitternd zusammen und outet sich. Gibt sich zu erkennen, versteckt sich nicht mehr in der Menge, hinter was weiß ich, sondern liegt vor Jesus und begegnet ihm, statt einfach nur was mitzunehmen und dann wieder zu verschwinden. Aber so kommt es nicht bloß zu einer flüchtigen Berührung zwischen ihr und Jesus, sondern zu einer Begegnung.

„Jetzt ist alles aus“, denkt sie. Denn sie hat in ihren Augen was getan, was mehr als peinlich ist, nämlich wirklich unerhört: Sie, die anscheinend jeden beschmutzt, der sie anfasst oder den sie berührt, hat das Ungeheuerliche getan: Sie hat sich sozusagen am Heiligen vergriffen! Sie hat einen Heiligen entheiligt! Sie hat Jesus jetzt mit ihrer Unreinheit angesteckt! Sie hat sich sozusagen Gesundheit erschlichen, indem sie ihn krank gemacht hat! Das denkt sie.

Hätte Jesus sie einfach ziehen lassen mit dieser toxischen Idee im Kopf, sie hätte ihre kleine Heilung mit den Preis eines umso größeren schlechten Gewissens bezahlt. Mit der Linderung ihres Leidens wäre kein Segen, sondern fast so was wie ein Fluch verbunden gewesen. Die Frau hätte mit ihrer ersehnten Heilung und der erhofften Kraft kein Heil gefunden. Das wäre bloß Kraft zum schnellen Verbrauchen geblieben. Wo du dich gleich, wenn du sie bekommen hast, wieder in der Schlange anstellen kannst, um neue zu tanken.

Deshalb geht Jesus einen Schritt weiter, auf die Frau zu, Er zeigt sich ihr, damit sie sich ihm zeigen kann: „Warst du das?“ Und die Frau sackt zusammen und sagt: „Ja, ich war das.“ Das ist die Begegnung mit Gott: Wenn du „ich“ sagst, wenn Gott dich fragt: „Wer ist das?“ Damit du anschließend zu Gott „Du“ sagen kannst. Wenn du das kannst, zu Gott „Du“ zu sagen und zu meinen.Darin liegt die Kraft, nach der ich suche.

Und jetzt kommt die zweifache Pointe der Geschichte: Es gibt eine Kraft bei Gott, die geht über das Auftanken weit hinaus. Gott will dich nicht nur berühren, dir nicht nur gute Erlebnisse schenken, oder Heilung von der Krankzeit oder die Lösung eines Problems bis zum nächsten, nicht nur Heilung, sondern Heil. Und das liegt in der Begegnung mit Jesus. Wenn er sich dir zeigt und du dich ihm öffnest. Da liegt die Kraftquelle, nach der ich mit euch gesucht habe. Die Berührung mit Gott tut gut und heilt dich. Und die Begegnung mit ihm ist dein Heil. Deine Rettung.

Jesus sagt zu der Frau, die ihn angeblich verunreinigt hat, nicht: „Was hast du getan?“, oder: „Das tut man aber nicht“, sondern gewissermaßen: „Gut so! Dafür bin ich da.“ Denn dafür ist Jesus gekommen: Um in Anspruch genommen zu werden. Belatschert zu werden. Angefasst werden. Angegrabscht. Damit man sich an ihm festhalten kann. Egal wie dreckig deine Finger sind. Es ist sogar so, dass da was dran ist, dass dein Heil seine Krankheit bedeutet. Dass die tiefste Kraft, die du erfahren kannst, aus seinen Wunden kommt. Beim Propheten Jesaja steht das: „Durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes 53,5) Denn das ist deine Rettung, dass Gott nicht seine unverletzliche Würde verteidigt, sondern verletzlich ist und sich berühren lässt. Verletzen lässt. Darin liegt paradoxerweise genau die Kraft, die sich entfaltet, wenn dein Tank leer ist. Amen.