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Predigt

16.09.18 – Armin Kistenbrügge – Apostelgeschichte 12, 1-11

Predigt vom 16. September, Armin Kistenbrügge

Predigt über Apg. 12, 1-11 am 16. Sonntag nach Trinitatis, 16.9.2018 in Greifenstein und Edingen

„Hier komme ich nie mehr raus!“

Liebe Greifensteiner (Edinger) Geschwister, habt ihr das schon mal halb verzweifelt gemurmelt? (Ich zum Beispiel um 22.30 Uhr auf einer Synode, die kein Ende nahm) Keine Panik, ihr müsst jetzt nicht befürchten, ihr kämt heute nicht mehr nach Hause, so lange dauert die Predigt! Aber wenn ihr euch die Situation einer solchen Ausweglosigkeit vorstellen könnt, seid ihr schon mitten in der Story aus der Apostelgeschichte eben angekommen. Und wir sind so was wie Mitinsassen. Mitgefangen, mitgehangen. Die mitbangen und beim konspirativen Ausbruch dabei sind. So, als würde auch euch ein Mitinsasse hinter vorgehaltener Hand beim Zählappell flüsternd fragen: „Ey, kommste mit? Machste mit beim Ausbruch?“ Wenn man mit einer spannenden Geschichte richtig mitgeht, spielt man selber immer ein bisschen mit. Ihr kennt doch bestimmt die Filme, wo einer unschuldig hinter Gittern sitzt. („Papillon“ mit Steve McQueen, der von der Gefängnisinsel entkommt.) „Heute nacht – jetzt gleich: Zieh dir was über, wir türmen!“ Da sind wir nicht mehr Zuschauer, sondern Schicksalsgenossen.

So weit weg von so einem Ausbruchs-Schinken im Kino ist die Apostelgeschichte gar nicht: Die Herodesburg in Jerusalem war so was wie Alcatraz. Da kommt keiner raus. Höchste Bewachung. Zwei Wachen vor dem Gefängnis. So wie in Jesus Grab. Für Petrus ist das hier sein Grab. Er ist sich bewusst, welche Stunde für ihn geschlagen hat. Jetzt geht es auch für ihn um Alles oder Nichts. Und diesmal ist er bereit: Seinen Herrn wird er nicht noch einmal verleugnen und vor versammeltem Volk sagen: „Ich kenne den gar nicht! Jesus Christus? Nie gehört.“ So wie damals. Er könnte in den Hof runtersehen, wäre er nicht an den Boden gekettet. Und alles wäre wieder da, als wäre es gestern. Als wäre es heute.

Petrus ist bereit. So wie Jesus bereit war in jener Nacht, als man ihn abholte und ins selbe Gefängnis steckte, zum Verhör, zur Folter aus politischem Kalkül, um die Gier einer gesichtslosen Menge nach Schuldigen und nach Opfern zu befriedigen. Petrus ist dem Tyrannen ausgeliefert. Und doch kann er schlafen. Er weiß sich ganz in der Hand Gottes. In die wird er sich fallen lassen, wenn seine Stunde gekommen ist.

Aber es kommt ganz anders. Er erlebt kein Getsemane, keinen Karfreitag. So war es bei Jakobus. Auch den hat Gott rausgeholt. Aber anders.Und Petrus dachte: So wird’s mir auch gehen. Aber Petrus erlebt keinen Karfreitag, sondern eine Osternacht: Plötzlich, er hat sich schon aufgegeben, kriegt er einen Rippenstoß: „Aufbruch! Jetzt!“ Als alles schon vorbei zu sein scheint. Wo absolut nichts mehr zu machen ist. Seine wunderbare Befreiung trägt die Handschrift Gottes. Sie hat was von Ostern.

Darauf müsst ihr achten, auf diese Handschrift, nicht auf die spektakulären Wunder! Seht die zwei Wächter, die nichts mitkriegen. Überrumpelt. Wie am Ostermorgen.Ein Tor, so schwer wie ein Grabstein, das kein Hindernis darstellt. Das ist die Handschrift Gottes.

Petrus fragt nicht lange. Er wird irgendwie mitgerissen. Er denkt nicht nach, schätzt das Risiko ab oder entscheidet sich, aufzustehen und bei der Flucht mitzumachen. Wenn Gott wirklich eingreift, sind Menschen völlig passiv. Petrus lässt geschehen. Sonst nichts. Er sieht weder voraus noch zurück. Wenn alles so schnell geht, fragt man sich hinterher selber: Sag mal, was war das jetzt eigentlich? Die Wirklichkeit oder ein Traum? Und wie hat der mich da rausgekriegt? Aus diesen Eisenfesseln? Durch diese dicken Tore? An den ganzen Wachen vorbei?

Erst als Petrus wieder alleine mitten im Freien steht und sortiert, wo er sich überhaupt befindet, realisiert er, was ihm passiert ist. Er überlegt nicht: Was ist mir denn jetzt genau widerfahren? Wie ist das denn vor sich gegangen? Er fragt: Wer war das denn? Und das ist ihm klar. Sein erstes Wort im Freien ist ein Lobpreis: „Gottes Hand hat mich befreit! Ich bin aus dem Grab entsprungen! „Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete, da waren wir wie Träumende. Da war unser Mund voll Lachen und unsere Zunge voll Jubel.“ Es ist ein Osterlachen über einen gelungenen Coup. Einen Raub. Gott hat dem Tod wieder eine Seele geklaut. Und freut sich diebisch.

Seid ihr im Geiste mitgeflüchtet? Habt ihr euch mitreißen lassen? – Naja, also ich hab glücklicherweise noch nicht im Gefängnis gesessen, weder aus politischen noch aus Glaubensgründen. Und einen spektakulären Ausbruch habe ich auch noch nicht erlebt. Ich bin nicht wie Petrus. Aber die Handschrift Gottes erkenne ich in meinem Leben trotzdem.

Ich gebe euch ein paar graphologische Hinweise, woran ihr die Handschrift Gottes erkennen könnt.

Erstens: Manche Menschen erzählen von ihrer Befreiung ganz ähnlich, wie Lukas die Geschichte von Petrus schildert. Als sie eingemauert waren in ihrer Zelle. Einsam. Ohne Ausweg. Bei manchen Menschen ist das wirklich kaum zu glauben, dass da noch ein Weg aus ihrem Gefängnis zu finden ist. So gut waren die an der Kette.

Versuch mal aus eigener Kraft einen Schuldenberg abzutragen und dafür rein rechnerisch etwa 60 Jahre abzahlen zu müssen; oder aus einem Kreislauf von Streit, Missverständnis, gegenseitigem Misstrauen wieder zu einer neuen Liebe zu finden, trotz alter und tiefer Verletzungen; bei einer Kindheit in Angst oder Vernachlässigung trotzdem ein liebesfähiger Mensch zu werden, der nicht an seine eigenen Kinder weitergibt, was er womöglich selber erdulden musste. Kann man aus einem Gefängnis aus Lebenslügen, Selbstgerechtigkeit, Entschuldigungen und tragischen Wiederholungen ausbrechen? Sind Menschen angekettet an ein Leben, das wie ein Weg in den Abgrund führt? Das klingt manchmal furchtbar dramatisch, und bei manchen – das gibt es wirklich! – ist das auch so spektakulär, die Befreiung. Ich hab das erlebt. Aber bei mir war das nicht so dramatisch. Und doch trägt mein Leben die Handschrift Gottes.

Ich erkenne manches vom Handeln Gottes wieder. Das ist das zweite graphologische Kennzeichen:Die Befreiung durch Gott kommt immer nachts auf leisen Füßen und völlig unvorbereitet.Die wird nicht vorher lange angekündigt: „Stell dich innerlich mal langsam drauf ein, dass ich dein Leben in vier Wochen gaaanz langsam – verändern möchte.“ Klar, Gott arbeitet an uns auch langsam. Aber Befreiung geht schnell oder gar nicht.Gott kommt zu mir, zu uns mit einem Rippenstoß: „Los. Jetzt. Warte nicht.“ Wenn Gott kommt, dann überraschend. Ich bin noch ganz benommen: „Äh, wie, was, wo bin ich, wer bist du …“ –

„Shhhh! Los, zieh dich an, raus hier!“ – „Wie, wo, ich kann mich doch kaum bewegen. Mann, ich bin hier angekettet. Wie soll ich hier rauskommen? Ich kann hier nicht weg. Ich hab meinen Platz hier. Ich habe Verantwortung. Eine Aufgabe. Ich gehöre hierher … Was, du sagst, ich bin im Gefängnis? Ich hab mich hier doch eingerichtet: Sieh, da ist mein Essplatz, da hab ich die Bilder von meinen Lieben hingestellt, mein Fernseher: Mein Tagesablauf kommt durcheinander! Wenn jetzt ausbreche, bricht in meinem Leben das Chaos aus!“

Es ist manchmal so, dass man den Engel, der einem in die Rippen stupst, am liebsten wieder wegschicken würde. Mit guten Argumenten.Denn wer von Gott ins Freie geführt wird, hat den Eindruck, er sei auf der Flucht vor seinem Leben: seinem alten Leben. Vielleicht habe ich schon so manchen Engel in meiner Zelle sogar einfach verschlafen.

Und der dritte Hinweis gilt uns gemeinsam:Ich glaube, auch zu uns als Gemeinde kommt manchmal, wenn alles schläft und keiner aufpasst, ein Engel und flüstert: „Los, zieht euch an, jetzt sofort. Ich bringe euch nach draußen.“ Vorbei an den Wächtern, die sagen: „Ihr bleibt schön, wo ihr seid. Nicht bewegen!“Wenn der Engel uns packt, dann macht es uns auch keine Angst, weil Gott uns nicht vorher schon sagt, wie das ungefähr ablaufen wird mit dem Ausbruch. Ich glaube, es gibt keinen Aufbruch ohne einen solchen Ausbruch aus unserer Gefängnis-Zelle.

Wenn der Engel uns packt, dann braucht keiner schon vorher zu verzagen, weil die dicken Mauern um die kleinen Einzel-Zellen in der Gemeinde einen gemeinsamen Ausbruchversuch zu verhindern scheinen. Nichts kann Gott hindern. Keine Tür, zu der wir den Schlüssel nicht haben. Manche Türen kann man sowieso nur von außen aufschließen. Ich glaube, das gilt auch für die Türen der Gemeinde, die nach draußen führen. Das eigenartige und das Tröstliche bei dem Engel ist: Er ist mit uns drinnen. Und flüstert: „Los, lass uns abhauen.“ Türmen wir! Mit dem Engel. Amen.