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07.11.21 – Armin Kistenbrügge – Die Kunst des Lassens

Die Predigt vom heutigen Sonntag mit Pfr. Dr. Armin Kistenbrügge zum Thema: „Die Kunst des Lassens“.

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Predigttext

Armin Kistenbrügge

Predigt: Die Kunst des Lassens

Am drittletzten Sonntag d. Kirchenjahres, 7.11.2021 in Edingen und Greifenstein

Liebe Edinger (Greifensteiner) Geschwister!

Der Mensch ist kein Faultier. Wir sind alle Jäger und Sammler, mehr oder weniger. Es steckt uns in der DNA, das ganze Leben zu rennen und zu machen, sich Ziele zu stecken, egal ob man sie erreicht oder nicht.

Aber ein erfülltes Leben erreicht man so nicht. Ich hatte vor drei Wochen gesagt, der Sinn deines Lebens ist nicht, etwas aus dir zu machen.Aus Gottes Perspektive bist du sein Projekt. Du bist sein Werk, sagte man früher. Und die Vollendung deines Lebens ist sein Job.

Aber wann kann man eigentlich sagen: „Ich hatte ein erfülltes Leben?“ Bei vielen löst so eine Frage einen Hamster-Reflex aus. Weil man eigentlich nie genug vom Leben haben kann. Es gibt ziemliche viele Filme, wo Leute nur noch begrenzte Zeit zum Leben haben und dann eine Liste mit Sachen auf­stellen, was sie alles vor ihrem Exitus noch erleben wollen: Was Verrücktes tun, ans Ende der Welt fahren, und da dann mit dem Fallschirm runterspringen, was weiß ich… Das meiste davon hat mit Spaß zu tun, so als wäre das erfüllte Leben ein Besuch im Freizeitpark, und jeder sieht zu, dass er mit allen Fahrgeschäften mal eine Runde dreht, und je weiter die Zeit fortschreitet, desto größer wird die Panik bei den Besuchern: Ich hab überhaupt noch nicht alles ausprobiert! „Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii!“ Die sprichwörtliche Torschlusspanik.

Aber dahinter steht eine ernste Frage: Was ist eigentlich ein erfülltes Leben? Ein gefülltes?Also möglichst viel zu erleben? Ich finde eine solche Lebenshaltung auf den zweiten Blick eher traurig. Klar, es ist toll, was für ein intensives und abwechslungsreiches Leben ich habe. Verglichen mit dem meiner Urgroßeltern zum Beispiel. Früher hatten die Leute einen guten Anzug. Und waren einmal im Leben im Urlaub. In den Flitterwochen. Im Allgäu. Wenn überhaupt. Ich werde in meinem Leben die sagenhafte Strecke von 820.000 km mit dem Auto zurückgelegt haben, das ist die Strecke einmal zum Mond und zurück. Und gefühlt drei Lebensjahre im Stau gestanden haben.

Wie wäre es, wenn man einfach mal eine Biografie des nicht Getanen erzählen würde: Des Gelassenen: „Als ich mal fast mal mit dem Ruderboot über den Atlantik gefahren, aber dann doch lieber an der Lahnschleuse ausgestiegen bin.“ Und wenn ich Opa bin, und habe meinen kleinen Enkel auf dem Schoß, dann erzähle ich ihm: „Ich wollte ja Pippi Langstrumpf heiraten, aber bevor sie eine Chance hatte, mich kennenzulernen, habe ich deine Oma getroffen, und das war besser so. Und so weiter: Ich hab keine Karriere gemacht, habe nicht den Mount Everest bestiegen, keine Kreuzfahrt rund um den Globus gemacht oder bin in Elon Musks Space X Rakete ins All geflogen. Eine wäre eine schöne Biographie, finde ich.

Eine von mir sehr geschätzte Pfarrers-Kollegin hat mal geschrieben: „Das Geheimnis eines erfüllten Lebens ist die Kunst des Lassens.“ Sie meinte damit drei Arten des Lassens: Das Zulassen, das Weglassen, und das Loslassen.Ich finde, sie hat Recht. Das möchte ich euch heute erklären.

Zuerst das Zulassen: „Let it be“, haben die Beatles 1970 gesungen. Übersetzt heißt das nicht: „Lass es bleiben“, sondern: Lass zu, dass es passiert. Mit dem Zulassen ist gemeint, dass du das, was wirklich ist, sein lässt. Da sein lässt. Und nicht ignorierst, weil du dich lieber an alternative Fakten hältst oder dir dein Leben anders wünschst oder es dir schöner säufst oder beim Planen übersehen hast, dass es schon stattfindet. Einer hat mal gesagt: Leben ist das, was passiert, während du fleißig Pläne machst.

Das ist gar nicht so einfach. Weil wir nämlich meistens mit unserem Geist woanders sind: Beim nächsten Schritt, den ich mir vornehme. Oder ich beschäftige mich innerlich mit dem, was ich befürchte oder wo ich mich drauf freue. Oder ich bin mit der Vergangenheit beschäftigt. Ich kann die Vergangenheit nicht ändern, aber ich kann mir die Gegenwart versauen, indem ich mir Sorgen über die Zukunft mache. All das führt dazu, dass ich innerlich nicht da bin, wo ich mich in Wirklichkeit befinde: In der Gegenwart. Das ist übrigens die Zeit, in der Gott mir begegnen will. Das ist seine bevorzugte Zeit. „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils!“, sagt der Apostel Paulus. Vielleicht erleben wir deshalb so wenig von Gott, weil wir nicht da sind, wenn er gegenwärtig ist.

Ein erster Schritt in ein erfülltes Leben ist deshalb womöglich, bewusst im „so isses“ zu leben. Übrigens kann man erst dann wirklich was ändern, wenn die Gegenwart momentan echt nicht vergnügungssteuerpflichtig ist. Denn nur, was du angenommen hast, kannst du ändern. Oder aber akzeptieren, weil es sich nicht ändern lässt. Und dann das eine vom andern unterscheiden.

Eine Übung für dieses „Zulassen“ habe ich von einem Psychologen gelernt und in Zeiten innerer Zerrissenheit und Unruhe versucht: Um zu üben, wirklich „im Moment“ zu sein, also in der Gegenwart, machst du folgendes: Du nimmst dir vor, in bestimmten Abständen, plus-minus ein paar Minuten, eine bestimmte kleine Handlung durchzuführen. Ich habe zum Beispiel gewählt, mir einmal in der Stunde ans Ohrläppchen zu fassen, nur um mir selber das Signal zu geben: „Ich bin da. Ich bin hier und jetzt und nicht irgendwo anders.“

Das ist die Basis für alles bewusste Leben, wenn du nicht mehr möchtest, dass du getrieben wirst Von den Kräften, für die du nur Knecht oder Kunde oder eine Zahl oder irgendwas bist, nur nicht du selber.

Das zweite bei der Kunst des Lassens ist das Weglassen. Der Mut zur Lücke. Alles nach dem Motto: „Was wir nicht haben, brauchen wir nicht.“ Kennt ihr schon, den Satz. Den habe ich von der Heilsarmee, die immer improvisieren muss und aus ihrem Mangel und in ihrer Angewiesenheit auf Unterstützung ihre größte Kraft entfaltet.

Das Weglassen ist eine Kunst, weil beim Zeichnen zum Beispiel erst mit dem gekonnten Weglassen das Charakteristische eines Gesichtes oder einer Szene deutlich wird. Wenn man jedes Detail gleichwertig nebeneinanderstellt, erkennt man meistens gar nichts. Oder jedenfalls nicht das Entscheidende. Das Weglassen dient also der Konzentration aufs Wesentliche.

Das Weglassen ist entweder das Einfachste, weil wir sowieso so viel haben, dass das nicht schwer fällt. Oder es ist das Schwerste, aus demselben Grund. Eine ganze Lebenshilfe-Beratungs-Branche lebt davon, dir Tipps zu geben, wie du dein Leben vereinfachen könntest: „Simplify your life“.

Wenn wir umziehen müssen: Davor graut’s mir jetzt schon. Und wenn ich mir vergegenwärtige, was ich alles „verbrauche“, wird mir blümerant: Ich werde durchschnittlich 10 Autos gefahren haben, 11 Computer gekauft, 4 Kühlschränke, 6 Fernseher und 3 Waschmaschinen. Alles nur für mich! Die Kunst des Weglassens zu lernen ist eine Überlebensfrage auf unserem Planeten geworden!

Die Ironie ist, dass das alles nicht wesentlich zum Glücklich sein beiträgt. Das Leben zu genießen lernt man eher, wenn man beides zu seiner Zeit tut: Genießen und Verzichten. Der Rhythmus macht‘s. Aber es sind nicht die vielen Sachen, die uns daran hindern. Ein übermotivierter Aussteiger ging mal zu einem weisen Einsiedler und wollte von ihm die Kunst der Enthaltsamkeit und Askese lernen: „Ich bin zu euch gekommen mit nichts in den Händen!” – „Dann lass es gleich fallen!”, sagte der Weise. „Aber wie kann ich es fallen lassen, wenn ich nichts mit mir habe?” – „Dann musst du dich eben damit abschleppen!”, sagte der Meister. – – Nicht die Dinge hindern uns, sondern das dicke Ich. Unser Ego nährt sich von Reichtum und Armut gleichermaßen. Für viele ist das Nichts ihr Besitz und der Verzicht ihr Triumph. Viele Dinge brauchten wir gar nicht aufzugeben, wenn wir unser aufgeblasenes Ich loslassen könnten.

Aber genau das ist das Wagnis. Die Kunst des Lassens hat ihre Wurzel im Mut, dich selber loslassen zu können. Und damit sind wir beim Loslassen. Das alles kann man von Jesus lernen. Der hatte nicht mal nen Schlafsack, geschweige denn einen festen Wohnsitz. Und trotzdem nannten ihn die Leute „Fresser und Weinsäufer“. Offensichtlich passten Genuss und Bescheidenheit bei ihm ganz gut zusammen. `

Jesus hat seine Jünger mal mit nichts losgeschickt, nicht mal einen Schlafsack oder ein zweites Hemd oder ein Bifi sollten sie mitnehmen. (Lk 10) Und nach ein paar Tagen sind sie wiedergekommen und waren so angefüllt mit Erfahrungen, dass sie sich überhaupt nicht mehr einkriegten und es nur so aus ihnen heraussprudelte: „Jesus, du kannst dir gar nicht vorstellen, was wir alles erlebt haben.“ Die hatten sich selber und ihre Bedürftigkeitdarüber völlig vergessen.

„Wer sein Leben gewinnen will, wird es verlieren. Wer aber sein Leben verliert um des Evangeliums willen, der wird es gewinnen.“ (Mk 8,35) Um die Erfahrung zu machen, gehalten zu werden, muss man loslassen.

Das ist wieder das Einfachste und das Schwerste zugleich. Am Einfachsten ist es, wenn du merkst, dass du das schon tust, wenn du liebst. Diese Hingabe ist dir ganz selbstverständlich möglich, wenn du einen Menschen wirklich liebst. Dass du ihn nicht festhältst und klammerst. Erst wenn Eltern ihre erwachsen gewordenen Kinder loslassen, gewinnen sie deren Liebe neu. Wenn du den wichtigsten Menschen in deinem Leben verlierst, weil er vor dir gestorben ist, dann musst du ihn erst loslassen, damit die Liebe, die euch verbunden hat, nicht mitstirbt, sondern sich verwandeln kann und zu dir zurückkehrt und dich wärmt.

Das Geheimnis der Liebe ist die Hingabe. Sagt Jesus. Es ist das Weizenkornprinzip, nachdem sie funktioniert. Die Kunst des Loslassens: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht.“ (Joh 12,24) Und die Früchte, die dein Leben bringt, die musst du auch loslassen und weitergeben lernen, damit sie wirken können, statt dich an sie zu klammern, an deine Lebensleistung.

Versteht mich also bitte richtig: Ich habe überhaupt nichts für fromme Weltverachtung übrig. Es geht darum, wie du sie anwendest. Der Kirchenvater Augustinus hat dafür mal eine absolut genial einfache Regel aufgestellt: Du musst die Sachen, die vergänglich sind, gebrauchen und dich nicht dran klammern. Und an Gott sollst du dich klammern, statt ihn zu gebrauchen. Das ist der Unterschied! Das Vergängliche, deine Zeit und dein Geld, dein Hab und Gut, deine Gesundheit und deine Lebenskraft können ein großer Segen sein, wenn man sie loslässt und einsetzt, hingibt und verschenkt.

Dieses Loslassen lernen, dafür gibt es eine sehr einfache und auf die Dauer wirkungsvolle Übung: Das kannst du jeden Abend machen: Vor dem Schlafengehen den Tag an dir vorüberziehen lassen und ihn Gott zurückgeben. Damit übst du das das Abschiednehmen. Lass dich zum Einschlafen los. Ich mache das mit dem Abendgebet von Martin Luther: „Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände.“ Damit lernt man ein ganz klein wenig das Sterben. Aber in der Hoffnung, am Morgen für einen neuen Tag zu erwachen.

Nur eins musst du bei allem Lassen festhalten: Dieses Lassen dient dazu, dass du die Hände für das Entscheidende frei hast. Du sollst dich an Gott festhalten. Es geht darum, dass du das Richtige festhältst: „Halte fest, was du hast“, heißt es in der Offenbarung (Offb. 3,11) im Brief an die Gemeinde in Philadelphia. Damit ist natürlich nichts gemeint, was die sich selber erarbeitet haben, oder ihre Verdienste um den Glauben. Es ist die Hoffnung, dass du am Ende ruhig mit Nichts dastehen kannst, weil Jesus dir die Krone aufsetzt. „Halte fest, was du hast, dass niemand deine Krone raube.“

Vergängliches wird umso schöner und wertvoller, je weniger du es festhältst. Aber Glaube, Liebe und Hoffnung bringen einen großen Segen, wenn man sie festhält. So werden wir reich in Gott und können auch andere damit reich machen. Erlöste lassen los, was nicht ewig hält. Und Glaubende halten fest, was ewig bleibt. Amen.